Der Sommersonnen-Tagtraum

Judith ist gerade 8 Jahre und sie liebt Tiere. „Bären, Löwen und Katzen sollen in meinem Märchen vorkommen“, schrieb sie uns. „Und ich selber natürlich auch!“ war ein selbstbewusster Begleitsatz. Am Ende kam ein Hinweis ihrer Mutter, dass „es schön wäre, wenn die Mama auch eine Rolle in dem Märchen spielen würde ;-)“. Es war uns natürlich ein Vergnügen …

 

Der Sommersonnen-Tagtraum

Judith blickte überrascht auf. Sie hatte den ganzen Nachmittag im Garten gespielt, und erst jetzt, als sich die Sonne dem Weltenrand näherte, wärmte sie das Gesicht des jungen Mädchens. Das weiche, dunkelgelbe Licht fand seinen Weg durch die wirren Äste und dunkelgrünen Blätter des Nussbaums und berührte sanft ihre Wangen. „Hm …“, wunderte sich Judith, während sie eine aus Holz geschnitzte Drachenfigur auf einen Ast setzte, „erst wenn die Sonne untergeht verliert der Nussbaum seinen Schatten und ich kann das Sonnenlicht genießen!“ Die Schuppen des bemalten Holzdrachen schimmerten grünlich. Die Sonne war nur mehr wenig von der Dachkante des benachbarten Hauses entfernt, dann wäre sie endgültig an diesem Tag aus dem Garten verschwunden.

Judith öffnete das Gartentor und lief ins Freie. Sie durchquerte das Dorf, überholte zwei Pferdekutschen, sprang über schmutzige Wasserlacke und streichelte eine vorbeispazierende Tigerkatze, bevor sie schließlich einen Hain aus dunklen Nadelbäumen erreicht, der ihr Dorf vor den strengen Winterstürmen schützen sollte. Gleich dahinter lag eine große Wiese. Lange, golden blühende Grashalme schaukelten im Wind, einzelne alte Laubbäume warfen riesige, dunkle Schatten. Die Tigerkatze war ihr unbemerkt gefolgt. Sie sprang auf einen nah gelegenen, schon vor langer Zeit gefällten Baumstamm, schnupperte dort an den Resten eines kleinen, braungrünen Baumpilzes, tapste nach einer dahineilenden Riesenameise und nahm schließlich Platz, um die Umgebung zu beobachten.

Judith setzte sich neben die Katze und ließ die Füße baumeln. Die Katze warf sich auf den Rücken und schnurrte schon, bevor Judith sie zu streicheln begonnen hatte. Der Wind ließ die langen Grashalme gleichmäßig schaukeln und zeichnete wundersame Muster in die Wiese:

Das Mädchen glaubte junge Löwen zu erkennen, die einander fauchend ansprangen, miteinander tollten, um die Wette liefen und sich im Gras wälzten. Der Schatten eines alten Baumes verwandelte sich in einen riesigen Bären, der sich auf seine zotteligen Beine stellte, die Vorderbeine hoch in den Himmel hob und ein dumpfes Grollen von sich gab. Er tapste über die Wiese, wühlte mit seinen Pranken in der Erde und riss von einem nahen Apfelbaum ein paar überreife Früchte, welche er sogleich verspeiste.

Dann ließ sich auf alle Viere fallen und lief zu den jungen Löwen. Die Löwen wichen erst erschrocken zurück, dann sprangen sie auf den Bären zu, tobten mit ihm im Gras herum und brüllten gemeinsam dem Sonnenuntergang entgegen. Judith jubelte vor Glück und klatschte fest in die Hände. Schließlich blinzelte sie ein paar Mal mit den Augen, der Bär und die jungen Löwen lösten sich langsam in Luft auf, dunkle Gräser wiegten sich wieder an ihrer Stelle im Wind. Die Katze war vom Stamm gesprungen und verfolgte auf der Wiese einen blauen Schmetterling. Immer wieder sprang sie in die Luft, konnte ihn aber nicht erreichen.

Da es inzwischen fast dunkel geworden war, sprang Judith rasch von dem mächtigen Stamm hinunter und lief schnell nach Hause.

Ihre Mutter war eben damit beschäftigt Brot zu backen, wobei sie gleichzeitig in ein dickes Buch schielte, das neben ihr aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag.

„Mama, auf der Wiese hinter dem Dorf, da haben sich junge Löwen und ein Bär versteckt, ich habe sie im Dämmerlicht miteinander spielen gesehen!“ Sie nahm dabei den Holzdrachen in die Hand und ließ ihn Kreise durch die Luft ziehen. „Und beim nächsten Besuch auf der Wiese, beim nächsten Besuch, da wird auch ein echter grüner Babydrache dabei sein, da bin ich sicher!“ Sie nahm sich ein frisch gebackenes Stück Brot vom Küchentisch und biss ein Stück ab. „Ich habe heute den Sonnentag verlängert und bin gleich dafür belohnt worden!“ dachte sie zufrieden.

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