Brownie, das junge Eulenmädchen, blickte ihrer Mutter ängstlich hinterher. Eben noch war die Muttereule neben ihr auf dem Ast der alten Waldeiche gesessen, nun war die Astgabel leer, vor ihr klaffte nur ein Loch zwischen den Ästen, Blättern und unscheinbaren Blüten des alten Baumes. Dorthinein, in die Schwärze der tiefsten Nacht, war die Mutter geflogen. Noch kurz zuvor hatte die Eulenmutter ihr noch Anleitungen fürs Fliegen gegeben: »Und dann, dann musst du die Flügel ausbreiten, aber du musst vorher schauen, aus welcher Richtung der Wind kommt, du musst die Ohren anlegen, gleichzeitig musst du horchen, welche Geräusche aus der Natur kommen und überlegen, ob vielleicht Gefahr droht, außerdem musst du dir den Weg zwischen den Ästen der Bäume merken, bevor du abspringst, nur so kannst du den Weg nicht verfehlen! Und dann, dann musst du …«
Das Eulenmädchen Brownie hatte nur mit halbem Ohr zugehört, sie war sich sicher gewesen, dass ihre Mutter sie nicht alleine auf diesem Ast sitzen lassen würde, so gesehen würde sie wohl auch nicht das Fliegen erlernen müssen. Doch dann, ganz plötzlich, hatte die Muttereule ihre mächtigen Schwingen geöffnet, sich in die Finsternis fallen lassen und war kurz darauf verschwunden. Ein weißer, kugelrunder Vollmond war gerade aufgegangen, der Wind blies durch den Wald und die Bäume begannen ihr übliches Spiel des Wisperns, Knackens, Rauschens und Duftens. »Waren diese Geräusche schon vorher da gewesen?«, fragte sich Brownie ängstlich. Ihr schien, als wären seit dem Verschwinden ihrer Mutter alle Lebewesen des Waldes gleichzeitig erwacht, um sich über ein kleines, einsames Eulenmädchen zu unterhalten. Ein Käfer kam den Ast entlangspaziert, auf dem Brownie saß. Kurz bevor er die Eule erreichte, umrundete er wie selbstverständlich den Stamm zur Hälfte und kroch auf der Unterseite des Astes unter der Eule weiter.
Der Panzer des Käfers schimmerte grünlich im Mondlicht. Brownie verdrehte ihren Körper und ihren kleinen Kopf so, dass sie dem Käfer trotz seines versteckten Pfades direkt ins Gesicht blicken konnte. „Ist dieses ewige Rauschen der Bäume eigentlich eine Sprache, reden die Bäume auf diese Art miteinander, oder ist das eine einzige, unnötige Musik?“ fragte sie den kleinen Käfer. Dem Käfer waren die großen, gelben Augen nicht ganz geheuer („zwei Sonnen mitten in der Nacht?“), rasch kehrte er wieder auf die Oberseite des Astes zurück und beeilte sich eine gute, „käfergesunde Distanz“ (wie er meinte) zwischen ihnen aufzubauen.
Wieder war die kleine Eule alleine. Niemals, niemals würde sie in diese Dunkelheit hinabfliegen, aber alleine in ihr Baumloch zurückklettern wollte sie auch nicht. So leise sie konnte rief sie in die Dunkelheit hinab nach ihrer Mutter, statt einer Antwort wurde das Knacken und Rauschen des Baumes stärker, der Ast, auf dem sie saß, schob sich zusammen und plötzlich blickte sie in das riesige, freundliche Gesicht eines uralten Baumwesens… „Jaaa“ – sagte eine dumpfe, gurgelnde Stimme aus einem unsichtbaren Mund des Baumes – „ja, jedes Geräusch, das du in diesem Wald hörst ist Sprache, wir unterhalten uns unentwegt mit einander, und wenn du es genau wissen willst, seit fünf Minuten amüsieren wir uns vor allem über eine kleine, ängstliche Eule, die es sich auf einer meiner Astgabeln zu bequem gemacht hat, hahahah!“
Mit diesen Worten gab er der Eule einen kleinen, freundlichen Klaps, Brownie verlor das Gleichgewicht und stürzte in die schwarze Nacht hinunter…. „Flügel öffnen nicht vergessen!“ hörte sie den Baum noch rufen, da hatte sie ihre Schwingen schon ausgebreitet gehabt und war langsam dem Boden entgegen gesegelt…. Ursus Piscis
Das Bild wurde uns freundlicherweise von dem Maler James Browne zur Verfügung gestellt…